Das Vorsorgeprinzip als Grundlage überbordender Bürokratie

Vorsorge und Sicherheit, wer verbindet damit nicht etwas Gutes? Der ehemalige finnische Präsident Sauli Niinistö hat am 30. Oktober 2024 in seinem Bericht Vorsorge und Sicherheit als Grundlage der zukünftigen EU-Politik eingefordert. Was ist damit im Einzelnen gemeint und welche Folgen ergeben sich daraus für den Gesundheitsbereich? Warum leiden die Gesundheitssysteme heute unter einer wuchernden Bürokratie und Personalnotstand? Und welche Folgen hat das für den Bereich der Traditionellen und Komplementären Medizin und Naturheilkunde (T&CM)? Um diese Fragen beantworten zu können, bzw. diese Begriffe und deren Folgen für uns heute vollends zu verstehen, ist zunächst ein historischer Rückblick erforderlich.
Entscheidungsprozesse
Unsere heutige gesundheitspolitische Wirklichkeit ist von vielseitigen Faktoren geprägt, welche zunehmend weniger von Organen der Zivilgesellschaft, als letztendlich in der Hand nationaler Regierungen und Parlamenten liegen. Was bedeutet „letztendlich“? Um diese Wirklichkeit zu gestalten finden im Vorfeld Gesprächs- und Entscheidungsprozesse auf regionaler, europäischer oder internationaler Ebene statt – so wie in anderen Politikfeldern auch. Besondere Höhepunkte aus dem Gesundheitsbereich waren z.B. die Ottawa-Charta der Vereinten Nationen (UN) von 1986, u.a. zu den Themen Gesundheitsförderung, Selbstbestimmung und Selbstfürsorge, oder das Strategiepapier der WHO zur Traditionellen Medizin 2014-2023. Deutschland und die meisten Staaten Europas haben dieses Strategiepapier im Gegensatz zu China, Südafrika oder Indien völlig ignoriert.
Ein weiteres Beispiel: Die von den Nationalstaaten akzeptierten und in nationales Recht umgesetzten Internationalen Gesundheitsregulierungen (IHR) der WHO von 2005 wurden im Mai letzten Jahr von der Generalversammlung der WHO (WHA) verschärft. Bis zum Jahresende 2024 konnten die nationalen Parlamente darüber entscheiden, ob sie diesen Verschärfungen zustimmen oder nicht. Wenn keine Änderungsanträge mit Mehrheit verabschiedet wurden, gilt dies als Zustimmung – und so ist es in Deutschland gekommen: Ab dem 1. Januar dieses Jahres sind die neuen IHR in Kraft getreten. Was bedeutet das konkret?
Ein Thema ist der Aufbau eines nationalen Kompetenzzentrums zur Pandemiebekämpfung. Dessen Aufgabenbereich beinhaltet u.a. auch die Bekämpfung von Desinformation, die Verfolgung von Straftätern und die Leitung und Durchführung von gesundheitsbezogenen Schutzmaßnahmen der Bevölkerung. Ein weiterer Punkt in den neuen IHR ist der Machtzuwachs des WHO-Generalsekretärs: Wenn seiner Erkenntnis nach eine Pandemie vorliegt, kann er den „pandemiebedingten Notstand“ ausrufen. Bei den nationalen Kompetenzzentren klingeln dann die Alarmglocken und sie treten in Aktion.
Dieser geschilderte Vorgang zeigt, wie Initiativen einzelner Nationalstaaten auf die internationale Ebene (z.B. WHO, UN) eingebracht werden, dort verworfen oder verabschiedet werden, um dann auf die nationale Ebene aller Mitgliedsstaaten zurückzukehren und dort gemäß eigenem Recht umgesetzt oder abgelehnt zu werden.
In Europa hat sich eine weitere politische Kraft etabliert: Die Europäische Union (EU) mit zurzeit 27 Mitgliedsstaaten. Als reine Wirtschaftsunion gegründet (EWG) erweiterten die Mitgliedsstaaten den politischen Zuständigkeitsbereich durch Verträge, z.B. der Maastrichter Vertrag von 1992 oder der Lissabonner Vertrag von 2007. In allen Verträgen wird die Rolle der Wirtschaft ausdrücklich als oberste Priorität betont, und die Zuständigkeit z.B. für Berufsrecht oder Gesundheit bei den Nationalstaaten belassen. Für Deutschland bedeutet dies unter anderem, dass neben dem Arztberuf ein zweiter selbstständiger Heilberuf „Heilpraktiker“ besteht.
Ganz anders im Bereich der Arzneimittel, der Medizinprodukte, der Lebens- und Nahrungsergänzungsmittel und der Kosmetik. Hierzu hat die EU sogar eigene Agenturen geschaffen, sozusagen die Bürokratie ausgelagert. Die Agenturen sind mit wenig öffentlichen Finanzmitteln ausgestattet, sodass dort das Public Private Partnership (PPP), die Zusammenarbeit mit der Industrie überwiegt. Generell hat sich dieser wirtschaftsbetonte Kurs auch weltweit verbreitet und mündet heute in Begriffen wie „One-Health“ oder „Gesundheit in allen Politikbereichen / Health in all policies“. So entstand die Gesundheitswirtschaft, eine Kombination von allen öffentlichen und privaten Anbietern und Herstellern im Gesundheitsbereich. Mit der Verknüpfung von Zuständigkeit für die Wirtschaft und der Gesundheit, die ja im Sozialbereich verankert ist, gelang es der EU den eigenen Bereich zu erweitern. Heutzutage gibt es sogar die „Europäische Gesundheitsunion“ und eine EU-Agentur für Notfallmedizin und Infektionsschutz (ECDC) in Stockholm.
EU-Vertragswerke und die Folgen
Bereits 1995 verabschiedete das EU-Parlament im Sinne des Vertrages von Maastricht neue, klare Vorgaben für die Wirtschaft und Industrie. Für die Produktion von Produkten und Gütern wurden Standardisierung und Dokumentation eingeführt. Die allgemeine Rechtsprechung führte das Vorsorgeprinzip ein, um das bisher gültige Verursacherprinzip abzulösen. Das EU-Parlament erfüllte damit die Forderungen des Vertrages nach Vorsorge und Sicherheit im Sinne des Verbrauchers. Der Verbraucher sollte vor schlechten Produkten und fehlerhaften Gütern durch Qualitätssicherung geschützt werden. Zunächst bezog sich die Qualitätssicherung nur auf die Produktion und Herstellung von Wirtschaftsgütern, wurde dann jedoch auf die Arbeitsverhältnisse und die Produktionsmittel ausgedehnt. Damit dies nach einheitlichen Standards umgesetzt werden konnte, musste ein geeignetes Beurteilungs- bzw. Messsystem für die Wirtschaftlichkeit, für die Effizienz und die Effektivität gefunden werden. Wissenschaftliche Studiendesigns wurden herbeigezogen, kombiniert mit statistischer Wahrscheinlichkeit und neuesten Forschungsergebnissen. Wenn alle Faktoren zusammen kommen gelten Herstellung und Produkte als sicher für die Verbraucher und dürfen verkauft werden. Somit gilt diese Form der Qualitätssicherung als das Maß der Dinge und wurde durch ratifizierte Abkommen über die Welthandelsorganisation (WTO) zur Grundlage der globalen Wirtschaft. All dies wurde ab 1995 für die wirtschaftlichen Prozesse erdacht und auch in Europa und den Nationalstaaten Zug um Zug umgesetzt.
Sicherheit von Arznei- und Heilmitteln
Für den Bereich der Arzneimittel begann in Europa schon ab dem Jahr 1978 ein Prozess der Nachzulassung, der bis heute anhält. Richtig zu spüren bekamen die Hersteller und Nutzer von Naturarzneien diesen Prozess ab den 90-er Jahren. Die Forderung nach belastbaren Belegen für die Wirksamkeit und Sicherheit von diesen Mitteln nahm stetig zu, sodass viele Hersteller den gestiegenen finanziellen Anforderungen nicht mehr vollumfänglich nachkommen konnten. Viele bewährte Präparate verschwanden vom Markt, wurden behördlicherseits umgestaltet oder erhielten rätselhafte Gebrauchsanweisungen und vereinzelt überlebten nur die kommerziellen Renner. In den USA war bereits Ende der 90-er Jahre ein System der Evidenz-Belegung für Arzneimittel entwickelt worden. Damit war dort die Evidenz-basierte Medizin für wirtschaftliche Produkte geboren. In Europa wurde diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen beobachtet. Anfang des neuen Jahrtausends stellte sich daher die Frage: Können wir nicht auch den Gesundheitsbereich mit den Methoden der Qualitätssicherung zu Vorsorge und Sicherheit führen? Ja, müssen wir das nicht tun, um mögliche Schäden für die Patienten abzuwenden? Daraufhin wurde in den staatlichen Gesundheitssystemen eine Ebene der Zertifizierung und Dokumentation eingezogen. Zwischen der praktischen Arbeit in den Praxen und Krankenhäusern und den Bedürfnissen der Patienten wurde die Qualitätssicherung sowohl für Material und technische Abläufe, als auch für personelle Fortbildung eingewoben. Damit sind bis heute enorme Kosten und Zeitaufwand verbunden, die zumeist von der therapeutischen Intervention und den Bedürfnissen der Patienten abgezogen werden. Eng mit diesem Prozess ist der Verweis auf den medizinischen Fortschritt und die Patientensicherheit verbunden.
Gesundheitswirtschaft
In Deutschland gilt das Jahr 2005 als Geburtsstunde der Gesundheitswirtschaft. Auf der nationalen Branchenkonferenz wurde eine Definition erarbeitet, die das deutsche Bundesgesundheitsministerium (BGM) übernahm. Dazu gehören neben Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen auch die medizinische Versorgung in Haus- und Facharztpraxen, die pharmazeutische Industrie, Medizintechnik, Gesundheitstourismus, Wellness sowie die Fitnessbranche. Das mag sich erst einmal vielversprechend lesen, hatte und hat bis heute enorme Konsequenzen: Bis 2005 war der Gesundheitsbereich eine vom Sozialbereich durchdrungene Angelegenheit. Das Heilen war eine Heilkunst. Die ganzheitliche Betrachtung bezog sich auf den Menschen als soziales Wesen, die Kraft der Natur und Selbstheilungskräfte waren akzeptierte Bestandteile des Gesundheitswesens. Die Stärkung der individuellen Immunität, naturgemäße Ernährung, energetische und spirituelle Heilverfahren waren Teil dieser Heilkunst.
Dazu ein beindruckendes Zitat von Dr. S. Eisenreich, Vorstandsmitglied der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin: „Medizin ist in ihrem Ursprung keine Natur- sondern eine Indizienwissenschaft, die deutet, vermutet, annimmt und einen Rest von Unsicherheit nie ganz vermeiden kann. (…) Das eigentliche Hindernis bei der Anwendung eines quantitativen Paradigmas in der Medizin ist die zentrale Stellung des individuellen Elements. Je mehr die individuellen Aspekte mit einbezogen werden, desto mehr schwindet die Möglichkeit einer streng wissenschaftlichen Erkenntnis.“ (Quelle: Dr.med.Mabuse 266-4.Quartal2024) Ab dem Jahr 2005 wurde die Gesundheitswirtschaft mit dem Sozialbereich verbunden. Menschen, soziale Wesen, werden mit dem wirtschaftsbetonten Netz aus Vorsorge und Sicherheit überzogen – genauso wie die produzierten Waren. Aufgrund des Vorsorgeprinzips können ab diesem Zeitpunkt die Gesundheitsberufe mittels Dokumentation ihrer Praxisabläufe nachweisen, dass die Patientensicherheit gewährleistet ist. Es kann nichts mehr Negatives geschehen. Falls doch, müssen die Patienten eine Verletzung der Qualitätssicherung nachweisen. Im Zuge dieser Entwicklung nimmt die Medizin nun für sich in Anspruch eine wissenschaftliche Disziplin zu sein, die sich auf Beweise für Wirksamkeit, Effizienz, Effektivität und Sicherheit stützt. Die Bezeichnung als Heilkunst verschwindet zugunsten einer Evidenz-basierten Medizin.
Fazit
Auch für den Bereich der T&CM hatte dies Folgen: Die Professoren Dr. Dobosch und Dr. Michalsen importieren 2006 die „Evidenz-basierte Medizin“ als integratives Element aus den USA (siehe: Urban&Fischer, Chronische Erkrankungen – integrativ). Sie wollen die besten T&CM-Anwendungen durch Studien passend für die staatlichen Systeme machen. Durch diese Art der Integration sollen das Ansehen der Methodik und die Finanzierung sichergestellt werden. Diese neu erschaffene „Integrative Medizin“ trifft auf ein immer größer werdendes Interesse bei naturheilkundlich orientierten Ärzten und Ärztinnen. Der Vorteil dieser Entwicklung ist, dass in den letzten zwanzig Jahren Unmengen an Studien entstanden sind. Der Nachteil liegt darin, dass sowohl die Methoden und Heilmittel, als auch die Gesundheits- und Heilberufe, die sich diese studien-basierte Forschung nicht leisten können, als unsicher beurteilt werden können. Zunehmend werden ganzheitliche Konzepte, die sich nicht an dem Konzept der globalen Wirtschaftlichkeit und Sicherheit orientieren als Desinformation und somit im Sinne des Vorsorgeprinzips als gefährlich für die Verbraucher bezeichnet. Zurzeit bezieht sich dies jedoch in erster Linie auf Heilverfahren und ihre Heilmittel, weniger auf die Gesundheitsberufe.